12. März 2013: Podiumsdiskussion »Ausgeprägte Medienkompetenz - mangelnde Deutschkenntnisse: Wie ist es um die Bildung bestellt?«

Eine Veranstaltung aus der Reihe »Kultur und Zeitgeschehen« 

Deutsche Schüler und Studenten können immer schlechter Deutsch. Die jungen Leute hätten dagegen eine größere Medienkompetenz, würden selbstsicherer auftreten und seien flexibler als frühere Studentengenerationen. Mit dieser Erkenntnis erregte im Sommer vergangenen Jahres Prof. Gerhard Wolf von der Universität Bayreuth Aufsehen. 45 Besucher nahmen das Angebot des Vereins Deutsche Sprache (VDS) an, im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Kultur und Zeitgeschehen“ über diesen in verschiedenen Studien und Untersuchungen aufgezeigten Befund zu diskutieren. Hierzu wurden Experten aus Politik, Lehre und Wissenschaft, von Gewerkschaften und Verbänden sowie Vertreter des Landesschülerrates und der Wirtschaft eingeladen. 

Paul D. Bartsch, Simone Danek, Benjamin Ziyad, Dagmar Röse, Thomas Lippmann und Hans-Joachim Solms (v.l.n.r.) diskutierten mit den Gästen

Prof. Paul D. Bartsch, Fachgruppenleiter Medienbildung beim Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung Sachsen-Anhalt (LISA), Dr. Simone Danek, Geschäftsführerin Aus- und Weiterbildung bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) Halle-Dessau, Thomas Lippmann, Vorsitzender des Landesverbandes Sachsen-Anhalt der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Prof. Hans-Joachim Solms, Professor für Geschichte der deutschen Sprache und älteren deutschen Literatur an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, und Benjamin Ziyad vom Landesschülerrat Sachsen-Anhalt, nahmen die Einladung an. Sie stellten ihre jeweiligen Positionen vor und diskutierten angeregt mit den Gästen im Saal. Moderiert wurde die Podiumsdiskussion von Dagmar Röse, Leiterin des Studios Dessau-Roßlau beim MDR Sachsen-Anhalt. 

Bartsch räumte zu Beginn ein Missverständnis aus: „Medienkompetenz ist nicht reduzierbar auf die Bedienung technischer Artefakte wie DVD-Player, Smartphone, Computer oder Tablet. Es lässt sich nicht schlussfolgern, dass die Jugendlichen allein deshalb eine ausgeprägte Medienkompetenz besitzen, weil sie sich auf berührungsempfindlichen Bildschirmen Informationen und Unterhaltung zugänglich machen können. Wir Medienpädagogen haben ganz offensichtlich das Problem, den Medienkompetenzbegriff immer wieder vor Vereinseitigung und Verkürzung zu schützen. Doch Technik spielt bestenfalls eine mittelbare, insgesamt aber untergeordnete Rolle gegenüber Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung.“ Andererseits sei Sprachhandlungskompetenz in der Summe von Sprech-, Schreib- und Lesekompetenz eine grundlegende Voraussetzung für Medienkompetenz. Bartsch sieht in diesem Zusammenhang arge Defizite in der schulischen Bildung, die den ästhetischen und kulturellen Wert von Sprache für die Schülerinnen und Schüler erlebbar machen müsse. 

Einen weiteren Wirkungsfaktor entdeckt Bartsch in den Massenmedien, „da durch journalistischen Sprachgebrauch, tendenziöse Berichterstattung, verbale Werbung, scripted reality von DSDS bis Dschungel-Camp, aber auch durch die Sprache in fiktionalen Medienkontexten wie TV-Serien, vieles formalisiert und variantenarm reduziert wird. Ganz zu schweigen von grammatikalischen, stilistischen und orthographischen Verstößen.“ Altgermanist Solms führte aus, dass die Medien sprachliche Vorbilder liefern würden, in denen hochsprachliche Formulierungen zunehmend durch umgangssprachliche verdrängt würden, was wiederum niemand kritisiere. „Da muss man sich nicht wundern, wenn das sprachlich übernommen wird“, stellt Solms nüchtern fest. Aus dem Auditorium ergänzte Dr. Hans-Jochen Marquardt, Halles ehemaliger Kulturdezernent, das selbst namhafte Redaktionen, die bisher in Bezug auf die Sprachpflege etwas auf sich hielten – er nannte beispielhaft die Zeit, die FAZ und den Spiegel – diesen abwärts gerichteten Anpassungsprozess durchliefen.

„Hinzu kommt das Denglisch, das gerade in der Politik, in der Wirtschaft und zunehmend in der Freizeit- und Alltagskultur häufig mit modern verwechselt wird: Das reicht vom Ehegatten-Splitting über die Afterwork-Party als Lifestyle-Produkt mit Designer-Drogen bis zum Secondhand-Shop, dem Meeting-Point, der Service-Hotline oder dem Startup-Unternehmen“, beschreibt Bartsch ein weiteres sprachliches Phänomen der Neuzeit. Dagegen würden sich gute, amüsante und lehrreiche Beispiele in den Medien selbst finden: Bastian Sicks Dativ-versus-Genitiv-Bücher etwa, Wiglaf Drostes Wortsprechstunde auf MDR Figaro, der Schlaumeier-Montag bei MDR Sachsen-Anhalt, Oliver Kalkofes drastische TV-Schelte oder die intelligenten Sprachsatiren der ZDF heute-Show.

      

Im Podium wurde angeregt diskutiert,

 

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im Auditorium folgte man aufmerksam.

Indes waren sich die Experten darin einig, dass dies Begleiterscheinungen sind und deren Ursachen kultur- und bildungspolitische Hintergründe haben. „Da die Stundentafeln nicht beliebig erweiterbar sind, stellt sich die Frage, ob man nicht zugunsten einer grundlegenden Ausbildung von Grundfähigkeiten und Grundfertigkeiten auf manches verzichten kann. Es müsse nicht eine Vielzahl von einzelnen Fächern ausdifferenziert werden. Denn eine sehr gute muttersprachliche Ausbildung befähigt die Schüler dazu, sich weitere Wissensgebiete zu erarbeiten“, führte Solms aus. Auch die IHK Halle-Dessau fordert eine Entschlackung von Lehrplänen und die Konzentration auf das Wesentliche. Man solle es den Schulen und Lehrkräften überlassen, wie der Stoff entsprechend vorgegebener Bildungsstandards vermittelt wird. „Dafür soll das Wissen in den Grundlagenfächern Deutsch, Mathematik und in den Naturwissenschaften gefestigt werden und alles andere darauf aufbauen“, schlägt IHK-Geschäftsführerin Danek vor. Daraus leitet sich eine Kernfrage ab: Wie soll Lernen künftig aussehen?

Thomas Lippmann und Hans-Joachim Solms

GEW-Funktionär Lippmann fordert einen breiten zugespitzten gesellschaftlichen Dialog und umreißt die Problemfelder: „Über die Jahre wurden die Deutschstunden gekürzt. Nach dem PISA-Schock kam die Testeritis. Klassenarbeiten beherrschen den Stundenplan. Zeit für Vorträge und Präsentationen fehlt. Mehrfache Änderungen im Schulsystem verlangen von den Lehrkräften über die normalen Anforderungen des Lehrberufs zusätzliche Anstrengungen ab. Die Schule ist der Reparaturbetrieb der Gesellschaft. Sie kann es sich nicht aussuchen, ob sie es sein will oder nicht – sie ist es einfach. Doch sie muss mit den entsprechenden Ressourcen auch in die Lage versetzt werden, diesen Anforderungen gerecht zu werden.“ Zudem verlangt Lippmann weniger Formalismus und Regularien, mehr Freiräume für Inhalte, ein größeres Vertrauen in die Verantwortung und pädagogische Kompetenz der Lehrer. Solms fordert ein Umdenken in der Wertefrage: „Bildung und Lehrkräfte brauchen eine gebührende gesellschaftliche Anerkennung ihrer außerordentlichen Leistungen, die Lehrerschelte muss aufhören.“ Weiter gelte es, den Bildungsgedanken gegenüber dem Ausbildungsgedanken stärker in den Vordergrund zu rücken.

Benjamin Ziyad im Gespräch mit Dagmar Röse 

In Zeiten des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels kann es sich die Gesellschaft nicht leisten, dass 20 Prozent der Jugendlichen eines Jahrgangs nicht über die notwendigen fachlichen und sozialen Kompetenzen für die Berufswelt verfügen. „Lehrstellen können nicht besetzt werden, weil die eine oder andere Kompetenz bei den Schulabgängern nicht vorhanden ist. Bei über 50 Prozent der Jugendlichen entspricht beispielsweise das mündliche und schriftliche Ausdrucksvermögen nicht den Anforderungen an den künftigen Beruf“, schildert Danek die Ergebnisse von Umfragen unter den Ausbildungsunternehmen. So fordert auch der Landesschülerrat eine stärkere Ausprägung des Unterrichts, in dem an den Schulen größerer Wert auf das Debattieren und Referieren gelegt wird. „An den Sekundar- und Realschulen können Schüler sich kaum ausdrücken und Sachverhalte erklären. Schülern geht das sprachliche Repertoire verloren, um sich anlassbezogen angemessen artikulieren zu können“, stellt der Gymnasiast Ziyad fest. Doch sieht er die Verantwortung nicht nur bei den Bildungseinrichtungen. Denn die Spracherziehung und Förderung der Sprachentwicklung fange zu Hause an. Es gebe allerdings nicht mehr viele Elternhäuser, in denen Kindern vorgelesen würde.


© Text und Fotos: Jörg Bönisch