Wissenschaftliche Studien belegen: Vorlesen macht Spaß und fördert die kindliche Entwicklung  

Bahn-Auszubildende Ellen Ißler begeisterte 2012 die jungen Fahrgäste im Vorlesezug zwischen Fröttstädt und Friedrichroda mit Kurzgeschichten

Am 15. November 2013 fand der 10. Bundesweite Vorlesetag mit einem Teilnahmerekord statt: Rund 80.000 ehrenamtliche Vorleser haben sich angemeldet. In Schulen, Kindergärten, Bibliotheken, sogar in Zügen und in der Fußgängerzone lasen sie ihre Lieblingsgeschichten vor.  Die Stiftung Lesen, die Wochenzeitung »Die Zeit« und die Deutsche Bahn riefen 2004  erstmals zum Vorlesen auf und mobilisierten die Öffentlichkeit.

Durch ihre Teilnahme am 10. Bundesweiten Vorlesetag setzen die Vorleser ein Zeichen für das Lesen und leisten so einen Beitrag für mehr Lesefreude und höhere Lesekompetenz. Die Initiatoren gehen von insgesamt mehr als 100.000 Teilnehmern aus, da sich Zehntausende mit einer Vorleseaktion beteiligen, ohne diese anzumelden. „Heute lasen fast genauso viele Menschen vor, wie an allen neun vorherigen Vorlesetagen zusammen“, betont Dr. Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen. „Dies ist ein toller Erfolg, der das wachsende Bewusstsein für die Bedeutung des Vorlesens für die Entwicklung von Kindern widerspiegelt. Hieran müssen wir anknüpfen und dafür sorgen, dass Vorlesen ein fester Bestandteil im Alltag wird – und zwar an 365 Tagen im Jahr.“

Dr. Simone C. Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese und Medienforschung der Stiftung Lesen

Zu den regelmäßigen Vorlesern gehören bekannte Persönlichkeiten wie  die Journalistin Anne Will, RTL-Chefredakteur Peter Kloeppel, Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie und der Moderator, Arzt und Kabarettist Dr. Eckart von Hirschhausen. Erstmals waren der Moderator Markus Lanz und der Musiker Bosse dabei. Auch zahlreiche Politiker beteiligten sich. So las Sachsen-Anhalts Kultusminister Stephan Dorgerloh in der Magdeburger Grundschule »Hegelstraße« aus dem Buch „Irgendwie anders“ von Kathryn Cave und Chris Riddell vor. Außerdem dankte er einigen der ehrenamtlichen Lese- und Lernpaten, die schon über Jahre hinweg Kindern Unterstützung beim Lesen und Lesen lernen bieten, indem sie sich Zeit für die Kinder nehmen, zuhören, erzählen und natürlich vorlesen. Außerdem ehrte der Minister besonders engagierte Lesementoren. Lesementoren sind Sekundarschülerinnen und -schüler, die Kinder im Grundschulalter beim Lesen lernen unterstützen.

Nach fast 20 Jahren erste Bestandsaufnahme zur familiären Vorlesekultur

Der Vorlesetag soll einen Beitrag dazu leisten, die Lesekompetenz zu fördern und Bildungschancen zu verbessern. Vorlesen hat direkten Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes, denn es vermittelt Basiskompetenzen, die für das spätere Leben entscheidend sein können. „Kinder brauchen Geschichten so nötig wie Vitamine und Mineralstoffe“, sagt Kinderbuchautor Maar. Doch gab es fast zwei Jahrzehnte keine wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Thema. Die letzte Studie „Familie und Lesen“ stammt aus dem Jahr 1988.

  • Das Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen führte 2007 nach 19 Jahren erstmals eine gesamtdeutsche repräsentative und systematische Befragung zur familiären Vorlesekultur durch. Die zentralen Befunde: Vier von zehn Eltern von Kindergarten- und Grundschulkindern lesen nicht regelmäßig, fast ein Fünftel liest überhaupt nicht und nur 30 Prozent der Eltern lesen täglich vor.  
  • In der Studie des Jahres 2008 sind erstmals Kinder zu Wort gekommen. Das Ergebnis: 37 Prozent aller Kinder bekommen niemals vorgelesen. Dabei hielten sich viele Eltern für Vorlese-Eltern, sind es in der Praxis aber nicht. 18 Prozent der Eltern sagten 2007, sie würden niemals vorlesen, 2008 erklärte ein doppelt so hoher Prozentsatz der Kinder, dass ihnen niemand vorliest. Weder im Elternhaus, noch im Kindergarten oder in der Grundschule. Dabei glauben die Eltern, dass ihre Kinder Vorlesen gar nicht so attraktiv finden. Wogegen die Kinder ein Gespür für das besondere Vorleseerlebnis in der Familie haben und Vorlesen toll finden. Auch wurde deutlich, dass Väter deutlich weniger Vorlesen als Mütter. Nur 8 Prozent der befragten Kinder gaben an, dass ihnen vom Vater vorgelesen würde. Sie finden Vorlesen zwar wichtig, tun es aber entweder selten oder nie.  
  • Die Gründe dafür wurden in der Vorlesestudie 2009 gesucht. Der erste zentrale Grund: Väter denken, die Mutter ist für das Vorlesen zuständig. Begründet wird dies mit einer höheren Vorlesekompetenz der Mütter. Als Nächstes führten die Väter mangelnde Zeit und größeres Interesse an anderen Freizeitbeschäftigungen an. Im Garten spielen, Sport treiben oder wandern und Ausflüge machen stehen bei den Vätern höher in der Gunst.  
  • Die Vorlesestudie des Jahres 2010 präsentiert Zahlen zum Vorlese- und Erzählverhalten in Familien mit Migrationshintergrund. In 36 Prozent dieser Familien lesen die Mütter, in 12 Prozent von ihnen die Väter ihren Kindern täglich vor, in jeder achten Familie liest jedoch niemand vor. Das Gleiche gilt für einen zweiten wichtigen Impuls zur Vermittlung von Sprach- und Lesekompetenz: das Erzählen von Geschichten. In 30 Prozent der Familien wird es von der Mutter, in 13 Prozent der Familien vom Vater täglich praktiziert, in fast jeder vierten Familie erzählt allerdings niemand den Kindern Geschichten.  
  • Nachdem in den vorangegangen Untersuchungen zur Vorlesesituation erhebliche Defizite aufgedeckt wurden, war 2011 die Bedeutung des Vorlesens für die Entwicklung von Kindern Untersuchungsgegenstand. Dafür wurden Jugendliche im Alter von 10 bis 19 Jahre nach ihren eigenen Vorleseerfahrungen in der Kindheit befragt, aber auch zu ihren aktuellen Freizeitaktivitäten, ihrer Mediennutzung, ihrem Leseimage und -verhalten. Diese Studie untersucht damit erstmals in einem breiten, ganzheitlichen Sinne empirisch die Bedeutung des Vorlesens für die Entwicklung von Kindern und geht über die reine Beschreibung der Vorlesesituation in Deutschland hinaus. Eines der zentralen Ergebnisse ist, dass regelmäßiges Vorlesen in der Kindheit den „Lese-Knick“ in der Pubertät, also die Abnahme der Lesehäufigkeit bei den 14- bis 19-Jährigen, aufhalten kann.  
  • Im Jahr 2012 wurde der Einfluss digitaler Medien auf das Vorleseverhalten in Familien untersucht. Dabei werden elektronische Medien als Ergänzung, nicht als Ersatz für klassische Bilderbücher betrachtet. Väter, die bisher deutlich seltener vorlesen als Mütter, können über die neuen Angebote motiviert werden. Damit böten sich neue Chancen und Anknüpfungspunkte für die Leseförderung. Dennoch sagen fast 90 Prozent aller befragten Eltern, dass Bilder- und Kinderbuch-Apps eine tolle Ergänzung sind, das gedruckte Buch aber nicht ersetzen können. 
  • Die Vorlesestudie 2013 greift den roten Faden auf, der seit 2007 mit unterschiedlichen Facetten in den Untersuchungen ausgerollt wurde, und stellt der Ausgangslage die aktuelle Situation gegenüber. In 30 Prozent der Familien mit Kindern im Vorlesealter von zwei bis acht Jahren wird laut der Vorlesestudie selten oder gar nicht vorgelesen. Dies gilt weiterhin besonders für Haushalte aus bildungsfernen Schichten. Ebenso lesen Väter ihren Kindern deutlich seltener vor als Mütter: Während 29 Prozent der Mütter ihren Kindern täglich vorlesen, machen dies nur neun Prozent der Väter. „Das Vorlesen muss nach wie vor gefördert werden", bilanziert Dr. Simone C. Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen. „Dass die Maßnahmen zur Förderung des Vorlesens greifen, zeigt der Vergleich der aktuellen Zahlen mit den Ergebnissen von 2007. Hier sehen wir eine positive Entwicklung.“   

Lesekompetenz in Deutschland unterdurchschnittlich

Die aktuelle Pisa-Studie für Erwachsene, welche Anfang Oktober 2013 von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vorgestellt wurde, zeigt, dass in Deutschland im Bereich der Leseförderung nach wie vor dringender Handlungsbedarf besteht: Obwohl der Kenntnisstand bei den Alltagskompetenzen insgesamt im Durchschnitt liegt, verfügt rund ein Sechstel (17,5 Prozent) der Erwachsenen zwischen 16 und 65 Jahren in Deutschland nur Lesekenntnisse auf Grundschulniveau. Diese Zahl ist damit höher als im internationalen Durchschnitt (15,5 Prozent).

Die Ergebnisse junger Erwachsener im Alter von 16 bis 24 Jahren waren im Schnitt besser als die der älteren Befragten. Dies kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass Leseförderungsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche erste Erfolge zeigen. Dieser Weg muss konsequent weitergeführt und ausgebaut werden. 

Fazit 

Werner Schütt, Vorlesepate bei der halleschen Freiwilligenagentur, las für den Hort Albrecht Dürer in der Stadtbibliothek Halle (Saale)

Ob Mutter oder Vater, ob klassisches oder elektronisches Buch: Vorlesen fördert die kognitiven, emotionalen sowie sozialen Kompetenzen und trägt dazu bei, dass Kinder und Jugendliche sich zu vielseitig interessierten, aktiven und offenen Menschen entwickeln. Jeder kann als ehrenamtlicher Vorlesepate das Vorlesen im Kinderalltag nachhaltig stärken und so auch einen aktiven Beitrag zur Sprachpflege leisten. Informationen, hilfreiche Hinweise und Anmeldung unter www.vorlesetag.de.

Text: Jörg Bönisch | Fotos: Deutsche Bahn AG/Kranert (1), Jörg Bönisch (2), Marcus Lahn/Freiwilligenagentur Magdeburg (1)